Bemerkungen zum Erdbeben von Port-au-Prince (Haiti)

Bei dem Magnitude 7.0 Erdbeben (nach USGS) vom 12. Januar 2010 (22.53 Uhr MEZ) handelt es sich - wenn man nur das Schadensmaß heranzieht - um das schwerste Erdbeben, das die Region in den letzten Jahrzehnten erschüttert hat (Abb. 1).

Betroffen ist ein von der Ausdehnung verhältnismäßig kleinräumiges Gebiet mit hoher Bevölkerungsdichte. In der Hauptstadt des Inselstaats leben mehr als 1,2 Millionen Einwohner. Betroffen ist eine Region, die zuvor in kurzen Abständen durch die Wucht extremer Naturereignisse Hurrikane und Überschwemmungen heimgesucht worden ist. Betroffen sind dadurch ohnehin anfällige Gebäude, die keine antiseismischen Schutzvorkehrungen erkennen lassen. Auch für dieses Ereignis gilt, dass ingenieurmäßig ausgelegte Gebäude seismische Bodenbewegungen ohne Einsturz überstehen können und müssen.

Eine schlüssige Ingenieuranalyse der Ursachen kann angesichts der derzeit primären Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben noch nicht vorliegen.

 

Seismische Gefährdung und historische Bebentätigkeit

Ein wichtiger Gesichtspunkt folgt aus dem Grad der Kenntnis der Erdbebengefährdung und den damit verbundenen Maßnahmen zur Erhöhung der Erdbebensicherheit der Gebäude und Infrastruktur. Bauliche Maßnahmen sollten einen der Gefährdung adäquaten Schutz der Bevölkerung vor einstürzenden Gebäuden (Forderung nach Standsicherheit), vor herabstürzenden Bauwerksteilen (Frage der Verkehrssicherheit), gewährleisten.

Abb. 1 zeigt auf Grundlage der Weltkarte der Erdbebengefährdung (GSHAP, 1999), dass die betroffene Region eine hohe Seismizität aufweist; sie wird durch Epizentren der stärksten Erdbeben in der Region seit 1973 Jahren überlagert.

Abb. 2 übernimmt die in der historischen Vergangenheit bekannt gewordenen bzw. überlieferten Schadensbeben (nach NEIC, 2010).  

Port-au-Prince wurde am 21. November 1751 bereits durch ein Erdbeben (verbunden mit Hangrutschungen) vollständig zerstört. Ein Beben wenige Jahre später (3. Juni 1770) kann noch stärker gewesen sein und richtete im entfernten Jamaika Schäden an. Weitere Beben in Santo Domingo und entlang der Karibischen Inselkette verdeutlichen, dass es in dieser Region keine „Überraschungsbeben“ geben kann. Die betroffene Region liegt direkt an den bekannten großen tektonischen aktiven Plattenrändern, an einem markanten Knotenpunkt verschiedener Platten, deren Bewegungsvorgänge durch Messungen bekannt und die aufgestaute Energie von Fachleuten abgeschätzt und die wahrscheinliche Energiefreisetzung offenkundig realistisch prognostiziert wurde. Auch zeitweilige Ruhephasen können kaum oder nur in fahrlässiger Fehlinterpretation zu einer Unterschätzung der Erdbebengefährdung beigetragen haben.

Nachbebentätigkeit

Das Gebiet ist durch eine Vielzahl von Nachbeben betroffen (Abb. 3). Das Wandern der Bruchzone - startend ca. 15 km entfernt von der Hauptstadt Port-au-Prince in Richtung Westen - lässt sich an den Herden der vielen starken Nachbeben nachvollziehen.

Den durch das Hauptbeben ohnehin labilen Konstruktionen droht dennoch bei schwächeren Ereignissen der Kollaps. Die Bergungsarbeiten sind in höchstem Maße gefährlich und erfordern geeignete Räumtechnik.

 

Verhalten der Bauweisen

Es gibt in der Region eine Vielzahl unterschiedlicher Bauweisen, die ein sehr unterschiedliches Erdbebenverhalten aufweisen. Die traditionellen Mauerwerksgebäude zeigen Wände aus ungebrannten Ziegeln und Lehm, die infolge der schweren Decken aus Stahlbetonelementen kaum der horizontalen Erdbebenanregung widerstehen können.

Auffällig sind z. T. wenige aber große Risse in einer Wirkungsrichtung, die auf die Wucht eines ersten sehr schweren Stoßes schließen lassen. Dieser Mechanismus wäre durch die Nähe zum Herd und den schlagartigen Vorgang der Energiefreisetzung erklärbar.

Aus den vorliegenden Informationen und Fotos geschädigter und eingestürzter Bauwerke ist zu schlussfolgern, dass erhebliche Mängel in der Qualität der Bauweisen und ihrer Ausführung einer Erklärung bedürfen. Anderseits sind die Schäden sehr unterschiedlich verteilt und konzentriert, so dass Effekte aus Hanglagen und Untergrundbedingungen eine Erklärung bieten können. In den sozialen Brennpunkten der westlichen Welt, in denen die Staatlichkeit überhaupt erst zu gewährleisten und staatliche Strukturen kaum wirksam sind, stellt sich Frage nach der Durchsetzung erdbebengerechter Bauweisen und Kontrolle der Bauausführung nicht.

Der geschädigte Präsidentenpalast steht in bezeichnender Weise für das Versagen und den Zerfall des Staates und für Ausfall der für Katastrophenbewältigung notwendigen Infrastruktur und der für die Bevölkerung überlebenswichtigen Versorgungslinien.

Gemessene Bodenbewegungen

Angaben zu gemessenen Bodenbewegung in Nähe des Epizentrums bzw. in den betroffenen Gebieten fehlen (noch). Sie liegen von den weiter entfernten Stationen (u.a. des USGS) vor. Die Messungen bestätigen die Augenzeugenberichte und den in den Schäden sichtbaren Impulscharakter der Einwirkungen.

[Das Beben war so stark, dass sich in den Registrierungen der seismischen Station des Zentrums für die Ingenieuranalyse von Erdbebenschäden (in den Kellerräumen der Fakultät Bauingenieurwesen) sehr deutlich die seismischen Spuren vom natürlichen Umgebungsrauschen abheben (Abb. 4). Auch die Nachbeben lassen sich im Eintreffen der Erdbebenwellen eindeutig identifizieren (Abb. 5).]

Offene Fragen

Das vielfache Bauwerksversagen bedarf auch hier einer Klärung der Ursachen und wirft Fragen auf, die angesichts des totalen Zusammenbruchs der für die Rettungsmaßnahmen und Koordination der internationalen Hilfe unverzichtbaren Strukturen kritisch ausfallen dürfen und längerfristig greifende Antworten beim Wiederaufbau erfordern.

Offenkundig ist mit dem Erdbeben 2010 der Staat zusammengebrochen. Ohne internationale Hilfe ist der Wiederaufbau nicht möglich. Der Wiederaufbau wird lange dauern und Fragen nach dem Wie und Wo aufwerfen. Angesichts der Besonderheiten der erdbebenbedingten Bodenbewegungen stellt sich die Frage nach den geeigneten Bauweisen und konstruktiven Lösungen, ebenso nach dem Einwirkungsmodell.       

Eingestürzte Gebäude von Botschaften und internationalen Hilfsorganisationen sind durch die darin operierenden Länder und Institutionen zu verantworten. Wie ist es möglich, dass diese Gebäude sich kaum vom Verhalten anderer unterscheiden. Wer trägt Verantwortung, wenn im Nachgang der Bestandsanalyse sich die Erdbebenvorkehrungen als unzureichend erweisen oder Ertüchtigungsmaßnahmen ausgeblieben sind.

Master CourseNatural Hazard Mitigation in Structural Engineering”

Es ist nicht das erste Beben, bei dem insbesondere die Hauptstadt (15 km vom Epizentrum entfernt) besonders betroffen wurde. Zu erinnern ist an die Beben von Guatemala City 1976; Mexico City 1985 und San Salvador 1986.

Masterstudenten aus diesen Ländern werden derzeit an der Baushaus-Universität Weimar (mit Unterstützung durch den DAAD) im Master Course „Natural Hazard Mitigation in Structural Engineering“ ausgebildet. Derzeit bearbeitet eine Studentin im Rahmen ihrer Masterarbeit vor Ort das Beben von 1986 in San Salvador, das bei geringer Stärke (Magnitude 5.6) erheblich Schäden verursachte. – Die Fakultät Bauingenieurwesen hat zu Jahresbeginn das seit sechs Jahren laufende Kursprogramm in den Rang eines Studienganges erhoben und eine Schärfung der Ausbildungsschwerpunkte in Richtung der Befähigung der Studierenden u.a. zur Wahrnehmung konkreter Maßnahmen im Ereignisfall und auf unterschiedlichen Handlungsebenen vorgenommen.

Erste Absolventen des Master Courses konnten im Oktober 2005 mit der Auswertung der Schäden des Kashmir-Bebens (Pakistan) im Rahmen eines Einsatzes der Ingenieurgruppe der Deutsche Task Force Erdbeben wirksam werden. Eine entsprechende Promotionsschrift steht vor ihrem erfolgreichen Abschluss. Ergebnisse wurden in renommierten (reviewten) Fachzeitschriften und auf internationalen Tagungen vorgestellt.      

Für das Beben in Haiti wird eine solche Handlungsoption für die Studenten aus Mittelamerika (nicht zuletzt aufgrund der vergleichbaren Problemlage) derzeit überprüft.

Literatur und Quellen

[1] [2] U.S. Geological Survey: Earthquake Hazard Program. http://earthquake.usgs.gov/earthquakes/search/.

[3] Giardini, G.; Grünthal, G.; Shedlock, K.; Zhang, P. (1999): The GSHAP Global Seismic Hazard Map. http://gmo.gfz-potsdam.de/.

[4] G. Grünthal (Ed.) Musson, R. M. W.; Schwarz, J.; Stucci, M. (1998): European macroseismic scale 1998. Centre Européen de Géodynamique et de Séismologie, Luxembourg 1998.

[5] Jarvis, A.; Reuter, H.; Nelson, A.; Guevara, E. (2006): Hole-filled seamless SRTM data V3. http://srtm.csi.cgiar.org. International Centre for Tropical Agriculture (CIAT) (Ed.).

[6] EERI; IAEE (2009): World Housing Encyclopedia. http://www.world-housing.net/ (09.04.2009).

Hinweis

Zur Darstellung der Karten wurde das GIS-Programm MapInfo Professional® eingesetzt.